Martin S. (Deutschland)
Ich stehe am Fenster meines Arbeitszimmers und blicke in den sommerlich blühenden Garten. Zur selben Zeit sitzen meine ehemaligen Kolleginnen und Kollegen an der großstädtischen Hauptschule wahrscheinlich wieder in einer Pausenkonferenz und diskutieren über den Umgang mit einem der verhaltensauffälligen Schüler. Ich habe nach langen Überlegungen und Gesprächen mit Freunden und Familie den Schritt gewagt und meine krankheitsbedingte Frühpensionierung beantragt. Zufrieden bin ich dennoch nicht, wenn ich auf mein Berufsleben zurückblicke, herrschen Enttäuschung und Entmutigung vor.
„Die Schule ist durch und durch krank – und vor allem dadurch sind es auch ihre Lehrer”, denke ich heute und weiß dabei eigentlich, dass Jammern nicht sinnvoll ist, sondern es besser ist zu sehen, was man (noch) tun kann. Aber da sehe ich nichts mehr, ich glaube nicht mehr an eine Verbesserung der Schule und der Situation der Lehrer durch Gesundheitspflege und andere großangelegte Projekte. Ich denke an die vielen gutwilligen Kolleginnen und Kollegen der Schuljahre, die Ideen hatten, den Kindern und Jugendlichen Begleiter sein wollten, keine Verantwortung scheuten und etwas bewegen wollten – und die gerade als erste in Scharen aufgaben und das Handtuch warfen.
Neben der erdrückenden Fülle sozialer Probleme und vielleicht auch persönlicher Unzulänglichkeiten mache ich als Ursache so etwas wie „einen institutionalisierten Mangel an Ehrlichkeit” aus: Schulaufsichtsbeamte, die nach Partei- und Verbandskriterien ausgewählt werden, Seminar- und Fachleiter, die schon lange nicht mehr selber eine Stunde vor den Lehramtsanwärtern halten, karrierebewusste Schulleiter ... und nicht zuletzt den Staat, der von Schülern als unfähig erlebt wird, eine grundlegende Ordnung durchzusetzen und entsprechende Konsequenzen bei Gewalt und offener Aggression zu ziehen. Wie erlebt ein Schüler einer sechsten Klasse Schule, bei dem ein Lehrer von einem Schüler laut mit „Was willst du Wichser denn hier?” begrüßt wird, begleitet vom Gejohle der halben Klasse - und nichts geschieht? Und wie erlebt der betreffende Lehrer den Staat, wenn der Schulleiter, den er um Hilfe bittet, ihm nur zu sagen weiß: „Das müssen Sie professionell wegstecken?”, erinnere ich mich an ein Gespräch mit einem Kollegen.
Denke ich an die Zukunft der Schule, insbesondere auch der Hauptschule, wünsche ich mir dringend mehr Ehrlichkeit. Ich wünsche mir Verantwortliche mit dem Mut zu sagen „Da bin ich ratlos” und der Konsequenz, Dinge nicht immer von oben per Erlass oder Projekt zu dirigieren, sondern denen zuzuhören, die täglich mit den Dingen konfrontiert sind. Dazu gehört für mich auch, ein paar „Heilige Kühe” zu schlachten, ganz besonders die des uneingeschränkten Elternrechts.
„Es kann doch nicht angehen, daß das Urteil der Lehrer über die schulischen Möglichkeiten eines Kindes überhaupt keine Rolle bei Entscheidungen über die Schullaufbahn spielt. Eine weitere Heilige Kuh wäre die Vorstellung von dem von Natur aus lieben und immer lernwilligen Kind und von dem allezeit vorhandenen guten Willen, an den man nur immer wieder appellieren muß. Der Staat muss deutlich Grenzen ziehen und klar machen, was er in der Schule nicht toleriert”, denke ich. Dass Kinder und Jugendliche sich falsch verhalten, dass sie auch mal völlig „von der Rolle” sind, und dass nicht bei jeder Gelegenheit Sanktionen eingesetzt werden, dass ein Lehrer Geduld haben muss und vieles auch mit Humor in Ordnung bringen kann, weiß ich selbstverständlich auch.
Trotzdem kenne ich aus meinen 32 Jahren Schuldienst etliche Situationen, in denen ich mir mehr Handlungsspielraum auch zum Schutz der Schule und der anderen Schüler gewünscht hätte. Entschlossen wende ich mich vom Fenster ab. Eigentlich wollte ich doch mein Pensionärsdasein genießen und nicht mehr so oft an die Schule denken ...