H. Höltgen (Deutschland)
„Herr H., Sie haben ja echte graue Haare!” – Ein Schülerausspruch, der mich manchmal traurig macht. Betrübt schaue ich dann vor mich hin und wenn ich Glück habe, ernte ich darauf den Satz: „So schlimm ist es ja auch noch nicht!”
23 (!) Jahre Hauptschule – was war da bisher alles so drin? Ausbildung in Bocholt (hart!), Vorbereitungsklassen für große und kleine türkische Kinder in Gelsenkirchen-Buer, drei Hauptschulen in Oberhausen am Rhein, die letzte (?) eine sogenannte katholische Hauptschule, zwischendrin einige Jahre Erwachsenenbildung an der VHS, dazu Sorgen und Nöte mit der eigenen Familie.
Womit ist man angetreten, welche Ideale hatte man, hat man noch, will man noch haben? Habe ich irgend etwas erreicht, habe ich Bildung vermittelt, Freude und Spaß gegeben und empfangen, habe ich Zukunftsperspektiven aufgezeigt und eröffnet, war ich mit dem Herzen bei der Sache, bringe ich Verständnis für die zunehmenden Nöte und Sorgen meiner Kinder auf, kann ich sie in Zukunft auch lenken und leiten, ist es mir möglich noch mit ihnen zu lachen, wo bleibt mein Einsatz, meine Motivation für das tägliche Einerlei, wie komme ich mit meinen Kollegen klar, dem Gelabere im Lehrerzimmer, dem Desinteresse aneinander, der Hektik, dem Nicht-Zuhören-Können, dem Aneinander-Vorbeigehen – welche Wortschöpfungen fallen mir da eigentlich noch ein? - der Nichtidentifikation mit Schule, dem Müde-Sein, der Erschöpfung, der Depression, der Leck-Mich-Haltung, des Nicht-Helfen-Wollens oder -Könnens?!!!
Wie lange muss ich eigentlich noch – ich werde verrückt: noch 18 Jahre!! Was soll da denn noch kommen? Ehrlich, ich bin angetreten in der Hoffnung Bildung vermitteln zu können, gekoppelt mit einer Menge Spaß, Witz und Albernheit – nicht mit der Verbreitung von Angst und Terror, wie ich sie selber als Schüler erleben durfte. Was wäre ich geworden, wenn ich nicht den Lehrerberuf ergriffen hätte? Bekannte lachen immer, wenn ich darauf als Antwort sage: Metzger oder Landwirt! Eine Verwandtschaft zum Lehrerberuf lässt sich hierbei zweifellos erkennen – oder nicht? Oft erwische ich mich bei meiner Unzufriedenheit, meiner Wut über Unzuverlässigkeit, Unverschämtheit, Faulheit, Dummheit, Desinteresse, Undankbarkeit, Perspektivlosigkeit meiner Schülerinnen und Schüler.
Wie oft erwische ich mich beim Pfeifen eines selbst komponierten Songs: „Ihr seid mir alle scheißegal.” – (nach dem Schlager: „Ich hab mich so nach dir gesehnt”) – dieser Song hilft übrigens besonders beim Übergang von der 5. zur 6. Stunde oder noch besser von der 7. zur 8. und am allerbesten von der 9. zur 19. Unterrichtsstunde! Überstunden, auch ein Thema – warum mache ich die nur? – Zu meinem eigenen Vergnügen, für die Benzinkasse, für das verlogene Schulimage? – Ich wollte ja eigentlich nicht zu negativ werden.
Wie sieht es aus mit den Damen und Herren des Lehrkörpers? Alles Einzelkämpfer oder doch Individuen, die den anderen Menschen, den anderen Kollegen, die andere Kollegin in seiner/ihrer Schwachheit annehmen, stützen und tatsächlich auch weiterbringen können? Wie viel Platz bleibt da noch für effiziente Kommunikation? Geheimnis über Geheimnis, Rätsel über Rätsel, wer mag sie lösen? Ist alles ein Frage der Sympathie oder ist es letzten Endes doch nur das herrliche Gefühl der Überlegenheit über den anderen, die Lust am Sich-Das-Maul-Zerfetzen-Über-Die-Anderen, die das Leben im Lehrerzimmer bestimmt? Es ist bedrückend, dass drei Kolleginnen und zwei Kollegen an endogenen Depressionen leiden und wegen diesem Krankheitsbild aus dem Dienst scheiden müssen, unbemerkt vom Rest der Lehrerschaft! Über zehn andere Kolleginnen und Kollegen sind innerhalb kürzester Zeit aus dem Dienst „verschwunden”! UMBRUCH nennt man das übrigens, Ratlosigkeit bleibt.
Aber es gibt sie ja noch, die Originale unter Schülern, Eltern und Lehrern, die einen fast jeden Tag noch zum Lachen bringen, es gibt ja noch das eine oder andere Highlight im Englischunterricht, eine Klassenfahrt nach England, eine flotte Diskussion im Reli-Unterricht, eine ansprechende Kurzgeschichte, eine spannende Lektüre, Kinder, die sich freuen, wenn man kommt, die einem aus dem Linienbus zuwinken, den Lehrer im Kaufhaus aus dem 5. Stock lautstark begrüßen, einen im Parkhaus nach 10 Jahren ansprechen und erwarten, dass man sie dann noch beim Vornamen nennen kann, die einen anrufen, wenn sie ihr erstes eigenes Kind bekommen haben – ja, für die lohnt es sich.
„Alles fit im Schritt?” fragt mich da eine etwas verschämt grinsende 8-Klässlerin. „Mmmmmh, kein Kommentar”, lautet meine Antwort und ich gehe etwas beschwingter als sonst weiter Richtung Lehrerzimmer – wie lange noch in dieses?